

Maschinenhalle des Kohlekraftwerks in Brakpan/Südafrika, 1897. Quelle: Siemens.
Rüdiger Sellin
Die Anfänge der Elektrizität
In grossen Teilen der westlichen Welt ist genügend Strom für alle selbstverständlich. Dafür sorgen grosse Kohle-/Gas-/Atomkraftwerke sowie deutlich umweltfreundlichere Wasserkraftwerke rund um die Uhr. Und doch begann die gigantische Entwicklung der Branche bereits vor über 200 Jahren – ganz unscheinbar.
Am Anfang stand die Entdeckung des dänischen Physikers, Chemikers und Naturphilosophen Hans Christian Ørsted (1777 – 1851). Er erkannte 1820, dass ein stromdurchflossener Leiter ein Magnetfeld in seiner Umgebung verursacht. Dieses Prinzip findet sich in jedem Elektromagneten mit einer Spule, in der sich infolge eines elektrischen Stromes ein magnetisches Feld bildet1. Auch im Dynamo älterer Fahrräder wird durch mechanische Bewegung im Innern eine Spannung erzeugt, die mit der Drehzahl des Dynamos steigt oder sinkt, weshalb der Scheinwerfer mehr oder weniger hell leuchtet. Heute findet man praktisch nur noch LED-Leuchten an den Velos, die von aufladbaren Akkus mit Strom versorgt werden. Doch an Bahnhöfen trifft man immer noch auf alte «Drahtesel» mit Dynamos, welche durch Radrotation Strom erzeugen.
Neues Energiezeitalter
Dieses «Dynamoelektrische Prinzip» wurde vermutlich zuerst von Werner von Siemens (1816 – 1892) entdeckt. Hierbei benötigt ein elektrischer Generator für die Anfangserregung zur Erzeugung elektrischer Spannung keinen von aussen zugeführten elektrischen Strom, sondern erzeugt diesen selbst durch den anfänglich geringen Restmagnetismus in der elektromagnetischen Erregerwicklung durch die elektromagnetische Induktion.
Der dadurch bewirkte, anfänglich sehr kleine Strom verstärkt wiederum den Magnetismus in der Erregerwicklung fortschreitend bis zum maximal möglichen Wert bei der magnetischen Sättigung des Eisenkerns. Dieses Wirkprinzip wird allgemein als «Positive Rückkopplung» oder «Mitkopplung» bezeichnet. Werner von Siemens erkannte das Potential des dynamoelektrischen Prinzips, entwickelte es bis zur Marktreife weiter und legte damit den Grundstein für die breite Elektrifizierung.
Ziel: elektrisches Licht ohne Batterien
Antriebskraft war der Wunsch nach einer leistungsfähigen, elektrischen Beleuchtung. 1808 erzeugt der englische Physiker Humphry Davy erstmals einen elektrischen Lichtbogen zu Beleuchtungszwecken und bewies damit, dass elektrische Lichtbogenlampen ein wesentlich intensiveres und helleres Licht ausstrahlen können als alle anderen zu dieser Zeit verwendeten Lichtquellen. Somit bot sich die Lichtbogenlampe zur Befeuerung weithin sichtbarer Leuchttürme an den Küsten sowie zur Beleuchtung von Stadien und Grossbaustellen an. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lieferten noch Batterien oder Generatoren den nötigen Strom.
Dazu befanden sich jeweils in unmittelbarer Nähe der zu beleuchtenden Objekte schwere und dennoch leistungsschwache magnetelektrische Maschinen. Diese rotierenden Stromerzeuger besassen im Inneren noch schwache Permanentmagnete, wobei sich die Leistung dieser Maschinen bei rund zwei Tonnen Generatorgewicht auf gerade einmal 700 W belief. Weil die damals verwendeten Permanentmagnete aus Stahl nur ein schwaches Magnetfeld erzeugten, waren der Energieerzeugung enge Grenzen gesetzt. Zudem ging deren magnetische Wirkung durch betriebsbedingte Erschütterungen leicht verloren.
Funktionsprinzip
Das Funktionsprinzip der Siemens-Dynamomaschine gilt bis heute. Im Inneren des Generators wird ein beweglicher Rotor (Läufer) gegenüber dem feststehenden Stator (Ständer) gedreht.Im Stator sind Spulen mit Wicklungen vorhanden, welche nach bestimmten Mustern angeordnet sind. Durch das vom Rotor mit einem Dauer- oder einem Elektromagneten (Erregerwicklung) erzeugte, umlaufende magnetische Gleichfeld wird in den Leitern oder Leiterwicklungen des Stators elektrische Spannung induziert und ein Strom beginnt zu fliessen.
Die Umwandlung der Bewegungsenergie in elektrische Energie beruht dabei auf der Lorentzkraft, die auf bewegte elektrische Ladungen in einem Magnetfeld wirkt. Bewegt sich ein Leiter quer (senkrecht) zum Magnetfeld, wirkt die Lorentzkraft auf die Ladungen im Leiter in Richtung dieses Leiters und setzt sie so in Bewegung. Diese Ladungsverschiebung bewirkt eine Potentialdifferenz und erzeugt eine elektrische Spannung zwischen den Enden des Leiters.
Leistungsgleichung
Die dabei erzeugte elektrische Leistung ist gleich der mechanischen Leistung abzüglich der auftretenden Verluste und lässt sich wie folgt beschreiben:
Pel = Pmech – Pv
Pel ist die erzeugte elektrische Leistung, Pmech die zugeführte mechanische Leistung und Pv die Verlustleistung infolge von mechanischer Reibung, Abwärme, Kupfer- und Eisenverlusten. Die entnommene Spannung lässt sich über die Stärke des Erregerfelds steuern, wenn dieses durch einen Elektromagneten (elektrische Erregung, Fremderregung) erzeugt wird. Diese Steuerungsmethode wird in praktisch allen Kraftwerken bei der Stromerzeugung angewendet, aber auch in Lichtmaschinen von Kraftfahrzeugen (Lichtmaschinenregler).
Um zu ermitteln, welche mechanische Leistung notwendig ist, um eine gewünschte elektrische Leistung zu erhalten, kann man die obige Leistungsgleichung auch umformen:
Pmech = Pel + Pv
Allerdings ist es in der Praxis nur schwer vorherzusagen, wie hoch die mechanischen, elektrischen und thermischen Verluste sind. Somit basiert die Bestimmung der Verlustleistung Pv auf empirisch ermittelten Schätz- oder Richtwerten.
Intensive Forschung und Entwicklung
Ab Herbst 1866 arbeitete Siemens intensiv daran, die damals existierenden rotierenden Stromerzeuger zu verbessern. Denn die Leistungsfähigkeit der elektrochemischen Batterien oder der einfachen rotierenden Stromerzeuger reichte zum Telegrafieren oder für kleine Anwendungen im Bereich der Galvanik aus. Grössere energietechnische Anwendungen wie die Beleuchtung von Strassen oder Elektrizitätswerke existierten damals nur in den Köpfen der Forscher und Entwickler.
An diesen Schwachstellen setzten die systematischen Forschungsarbeiten Werner von Siemens’ an. Eine höhere Drehzahl des Ankers und stärkere Magnetfelder waren die erfolgsentscheidenden Kriterien zur Weiterentwicklung magnetelektrischer Maschinen. Ein Doppel-T-Anker, zunächst für Zeigertelegrafen entwickelt, stellte die Ausgangsbasis für wesentlich höhere Drehzahlen der Stromerzeuger dar. Von Siemens liess in seinen Werkstätten ab September 1866 den Doppel-T-Anker eines Generators mit einem Elektromagneten in einer Reihenschlussschaltung kombinieren, um den Effekt der Selbsterregung zu untersuchen.
Der Durchbruch
Kurbelte man nun den Doppel-T-Anker von Hand, genügt der geringe Erdmagnetismus für eine erste schwache Stromerzeugung (Selbsterregung). Diese verstärkte sich beim Kurbeln selbst und erreichte nach wenigen Umdrehungen ihre volle Stärke. Ein als Messgerät angeschlossenes Elektroskop brannte sofort durch und auch ein zwischen den Generatorklemmen befestigter, etwa einen Meter langer Eisendraht schmolz durch. Mit dieser Entdeckung gelang Siemens der Durchbruch.
Die neue dynamoelektrische Maschine bedeutete einen gewaltigen Technologiesprung. Im Vergleich zu Stromerzeugern mit Permanentmagneten senkte sie das Gewicht der Antriebsmaschine um 85 %, die erforderliche Antriebsleistung um etwa 35 % und den Preis der Maschine um 75 % – dies bei gleicher Leistung. Siemens war euphorisch und erkannte das Potential seiner Entwicklung für weitere Entwicklungsschritte. So koppelte er seine Dynamomaschine mit einer Dampfmaschine der aufstrebenden Firma Borsig – ebenfalls in Berlin ansässig und bekannt für ihre unverwüstlichen Dampfloks. Diese Partnerschaft markierte den Beginn einer gewaltigen Entwicklung der weltweiten Stromproduktion.
Aufstrebende Branche
Die neue Technologie verbreitete sich nicht nur in Europa sehr rasch, sondern war auch ein gefragter Exportartikel. So errichtete die Firma Siemens & Halske ab 1895 das erste öffentliche Kraftwerk in Südafrika. Das Drehstromkraftwerk ging Ende 1897 nach nur zwei Jahren Bauzeit in Betrieb und versorgte die Goldminen am Witwatersrand in Transvaal sowie das 40 km entfernte Johannesburg mit Elektrizität. Die eingesetzten Generatoren gehören zu den grössten ihrer Zeit. Der lokal erzeugte Strom wurde erstmals über dedizierte Hochspannungsleitungen zu den verschiedenen Verbrauchsstellen übertragen.
Ob für den Antrieb von elektrischen Antrieben für Bahnen oder Fabriken oder für Beleuchtungen – Glühbirnen, Lifte und bald Elektrokutschen standen vor und nach der Jahrhundertwende um 1900 in der ganzen westlichen Welt für Fortschritt und Aufschwung. Sie galten als modern und waren entsprechend gefragt. Nach den Hotels und Verwaltungsgebäuden wollten auch möglichst viele Privathaushalte eine elektrische Beleuchtung. Heute würde man vermutlich von «Lifestyle» sprechen. Doch woher sollte der Strom kommen? Die Nachfrage überstieg das Angebot, was bis heute gut für hohe Margen ist. Somit ging es darum, möglichst viel Strom möglichst rationell zu produzieren und zu den Abnehmern zu bringen. Dazu waren neben Kraftwerken auch Stromleitungen erforderlich.
Ungestillter Strombedarf
Während in Grossbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland wie in den USA oder Südafrika vor allem Kohlekraftwerke favorisiert wurden, standen in der wasserreichen Schweiz wie auch in Österreich die Nutzung der Wasserkraft im Zentrum. Trotz der starken Eingriffe in die Landschaft durch Aufstauung der Gewässer und des grossen Aufwands von der Planung über langwierige Genehmigungsverfahren bis hin zu Erstellung und Betrieb gilt die Wasserkraft bis heute als nachhaltigste Energiequelle. Sie erzeugt im Betrieb keinerlei CO2-Emissionen oder Lärm und gilt als praxisnah. Denn der gewünschte Strom steht dann bereit, wenn man ihn benötigt, immer vorausgesetzt, dass der Stausee oder der genutzte Wasserlauf genügend Wasser führen.
Die Schweiz deckte ihren schnell wachsenden Strombedarf vor dem Zweiten Weltkrieg fast zu 100 % durch Wasserkraft. Auch heute noch deckt die heimische Wasserkraft je nach Jahr und Erhebungsmethode etwa 70 % des schweizerischen Strombedarfs ab. Als primärer Energielieferant verlor sie ab 1960 jedoch an Bedeutung, und billig importiertes Erdöl und Gas traten als Energielieferanten für Heizungen und Mobilität an die erste Stelle. Dies könnte sich im Zuge der Förderung der Elektromobilität, des Wärmepumpenbooms und Vorgaben zu CO2-Zielen schnell ändern.
Bis Anfang der 1970er Jahre gab es kaum Diskussionen um CO2-Emissionen. Überhaupt ging man recht sorglos mit Natur, Mensch, Tieren, Kulturdenkmälern und den Folgen der schnell wachsenden Industrialisierung und Globalisierung um. Zudem entstanden weltweit Hunderte von Atomkraftwerken, was damals noch ohne grossen Widerstand möglich war. Noch heute sind über 400 Reaktoren in Betrieb – Tendenz wieder steigend. Atomstrom galt als billig, praktisch und problemlos. Über die Endlagerung gebrauchter und radioaktiver Brennstäbe machte man sich erst später Gedanken.
Jeder in der Pflicht
Der Energiehunger insbesondere aufstrebender Volkswirtschaften wie China und Indien, aber auch jener in Nordamerika nimmt weiter zu. Dank reichlich verfügbarer Energie werden Güter des täglichen Gebrauchs sowie Konsum- und Luxusgüter sorglos auf der Erde «herumtransportiert», ebenfalls ohne Gedanken an CO2-Emissionen. Setzt man den Energieverbrauch ins Verhältnis zum Einkommen, erkennt man schnell die Auswirkungen des Wohlstands. Gemäss der jährlich durchgeführten Oxfam-Studie verbraucht jeder Schweizer Bürger im Durchschnitt innert drei Tagen etwa gleich viel Energie wie ein Einwohner in Zentralafrika pro Jahr.
Das Problem betrifft jedoch praktisch alle Weltenbürger mit höheren Einkommen. Auch andere langjährig durchgeführte Statistiken zeigen, dass der CO2-Ausstoss weltweit stark einkommensabhängig ist. Setzt man den Gesamtverbrauch gleich 100 %, so verbrauchten 2019 arme Weltbewohner 7,7 %, der Mittelstand 42,5 % und Superreiche 49,8 % der Gesamtenergie. In der Schweiz kontrolliert das reichste Prozent 44 % des Gesamtvermögens, womit rund 90 000 Einwohner fast unvorstellbare rund 952 Mia. CHF besitzen. 2019 verursachte diese Personengruppe pro Kopf etwa 102,4 Tonnen CO2 – mehr als dreizehn Mal so viel wie ein Mensch aus der ärmeren Hälfte der Schweizer Bevölkerung mit rund 7,7 Tonnen CO2 pro Kopf und pro Jahr. So überrascht es kaum, dass die Schweiz z. B. bei der Anzahl immatrikulierter Privatjets weltweit an siebter Stelle und bei den Motorleistungen ihrer Privatautos europaweit an der Spitze liegt.
Ökologischer Irrsinn
Leider setzt sich der Leistungswahnsinn bei der Mehrzahl der hierzulande immatrikulierten Elektrofahrzeuge fort. In den Verkaufsräumen stehen Elektromobile mit bis zu drei Elektromotoren und einer Leistung von bis zu 1000 PS (750 kW), Allradantrieb und grossen Akkus mit über 100 KWh Kapazität – Tendenz weiter steigend. Das Fahrzeuggewicht strebt unaufhaltsam in Richtung drei Tonnen, besonders bei den beliebten Elektro-SUVs. Soll man darüber staunen oder solche Auswüchse vielleicht auch mal hinterfragen? In jedem Fall geht alles auf das Jahr 1866 zurück, denn ohne die Dynamomaschine von Werner von Siemens gäbe es auch keine Elektromobilität. Ob er sich das Ganze so vorgestellt hat? Wohl kaum.