
Dank der Neuregelung braucht es nun auch bei grösseren PV-Anlagen ab 30 kW im Niederspannungsnetz keinen redundanten NA-Schutz mehr. Bild: Shutterstock
Benedikt Vogel
Ein einziger Schalter bietet Schutz
Die Solarbranche hat die Empfehlungen des herkömmlichen Netz- und Anlagenschutzes (NA-Schutz) sowie die unterschiedlichen Vorgaben der Netzbetreiber wiederholt als Hindernis beim Ausbau der Photovoltaik (PV) kritisiert. Eine Arbeitsgruppe hat in der umstrittenen Frage nun einen schweizweiten Konsens erzielt.
Wenn es um dezentrale Stromerzeugung beispielsweise mit PV-Anlagen geht, spielt die «Branchenempfehlung Netzanschluss für Energieerzeugungsanlagen an das Niederspannungsnetz» des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) eine zentrale Rolle. Die Schweizer Verteilnetzbetreiber regeln in diesem Dokument alle elektrotechnischen Details, die für eine sichere Stromeinspeisung ins Netz zu beachten sind. Die «Branchenempfehlung» wird regelmässig den neusten Erkenntnissen und Erfordernissen angepasst. Die nächste Überarbeitung dürfte im Frühjahr oder Sommer 2025 veröffentlicht werden.
Eine Neuerung wird den Netz- und Anlagenschutz – kurz: NA-Schutz – betreffen. Der NA-Schutz ist vereinfacht ausgedrückt ein Sicherheitsschalter, der eine PV- oder eine andere Stromerzeugungsanlage (z. B. Netzbatterie oder bidirektionale Ladestation) im Fall einer Netzstörung vom Netz entkoppelt und damit verhindert, dass in das fehlerhafte Netz weiterhin Strom eingespeist wird. Zu dem Zweck ist jeder Wechselrichter einer PV-Anlage mit einem NA-Schutz ausgestattet. Nach bisheriger Regelung wurde für PV-Anlagen im Niederspannungsnetz mit mehr als 30 kW Leistung (z. B. grosse Dachanlage auf einer Scheune oder einem Gewerbebetrieb) ein zweiter, externer NA-Schutz verlangt. Diese redundante Ausführung des NA-Schutzes wird mit der neuen «Branchenempfehlung» abgeschafft. «Damit können Solaranlagen in diesem Leistungsbereich künftig einfacher und günstiger gebaut sowie deren Verlässlichkeit erhöht werden», sagt Thomas Hostettler vom Branchenverband Swissolar.
Redundante Lösung umstritten
Über die Ausgestaltung des NA-Schutzes bei PV-Anlagen herrschte lange Uneinigkeit. Der Streit entzündete sich insbesondere an dem externen NA-Schutz für Energieerzeugungsanlagen im Nieder-spannungsnetz ab 30 kW Leistung. Dieser Schutzschalter musste bisher am Netzanschlusspunkt eingebaut werden. Vertreter der Solarbranche hielten das für eine unnötige Anforderung, da bereits im Wechselrichter der PV-Anlage ein NA-Schutz vorhanden ist, der dieselbe Funktion erfüllt. Manche Verteilnetzbetreiber hingegen befürworteten einen zweiten Schalter. Sie argumentierten, dieser biete einen zusätzlichen Schutz, sollte der NA-Schutz im Wechselrichter nicht ordnungsgemäss funktionieren, z. B. aufgrund einer falschen Einstellung. Sie verweisen hierbei auf das Stromversorgungsgesetz (Art. 8 Abs. 1), wonach die Verteilnetzbetreiber für den sicheren Netzbetrieb verantwortlich sind.
Vor dem Hintergrund hat sich eine breit zusammengesetzte Arbeitsgruppe gebildet, um die Notwendigkeit des externen NA-Schutzes zu überprüfen. Im Projekt mit dem Kürzel NAEEA+, welches durch das P+D-Programm des BFE gefördert wurde, waren die Schweizer Stromversorger, die Solarbranche und vier akademische Einrichtungen vertreten (siehe Kasten). «Das Projekt brachte die gesamte Branche zusammen, um auf der Grundlage einer detaillierten Studie festzustellen, ob es einen Nutzen für den externen NA-Schutz gibt oder nicht, und um einen fundierten Konsens zu erzielen, der für die gesamte Schweiz gilt», sagt Karin Söderström, die das Projekt vonseiten des BFE begleitete.
Die Arbeitsgruppe führte einen intensiven Fachdialog unter Einbezug von externen Expertinnen und Experten. Die Forschungsstelle Energienetze der Eid-genössischen Technischen Hochschule Zürich erstellte – neben ihrer Aufgabe als Projektkoordinatorin – Simulationen zu Auswirkungen eines fehlerhaften NA-Schutzes auf das Verteilnetz. Die Berner Fachhochschule führte in ihrem Prüflabor in Burgdorf Experimente mit NA-Schutzgeräten durch. Die Technische Universität Graz steuerte Risikoanalysen zu potentiellem Fehlerverhalten von NA-Schutzgeräten bei.
Inselnetze vermeiden
Nach einer Erfassung aller Sorgen und potentieller Störszenarien rund um den NA-Schutz konzentrierten sich die Diskussionen auf die Fragen, ob die NA-Schutzfunktion der Wechselrichter zuverlässig funktioniert, wie hoch das Risiko von Falscheinstellungen ist und ob eine redundante Auslegung des NA-Schutzes die Bildung von Inselnetzen in Verteilnetzen verhindern kann. Ein Inselnetz kann entstehen, wenn zum Beispiel ein Transformator, der ein ganzes Dorf mit Strom versorgt, ausfällt. Sind in dem Dorf genügend PV-Anlagen in Betrieb und gibt es zudem eine Anlage, die die Frequenz vorgeben kann (zum Beispiel ein kleines Laufwasserkraftwerk), ist es möglich, dass die Stromversorgung des Dorfes fortbesteht, obwohl dieses vom übergeordneten Stromnetz abgeschnitten ist.
Inselnetze sind selten, aber es sind Fälle im Ausland bekannt, bei denen Mittelspannungsnetze allein durch einen Windpark versorgt wurden. Mit dem Ausbau der dezentralen Energieversorgung könnten Inselnetze vermehrt entstehen. Netzbetreiber wollen diese aus Sicherheitsgründen unbedingt vermeiden.
Neue Regelung wird bereits umgesetzt
Inselnetze könnten in Zukunft mit den nötigen Vorkehrungen genutzt werden, um Stromnetze resilienter zu machen. Unbeabsichtigte Inselnetze aber sind zu unterbinden, da waren sich die Expertinnen und Experten im NAEEA+-Projekt einig. Doch hilft eine redundante Auslegung des NA-Schutzes tatsächlich, um PV-Anlagen im Fall einer Netzstörung vom Netz zu trennen und Inselnetze zu vermeiden? Die Analysen, Simulationen und Experimente zeigten, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen NA-Schutz und Inselnetzen gibt. «Wir konnten zeigen, dass ein intakter NA-Schutz die Inselbildung keineswegs ausschliesst, und umgekehrt wird Inselbildung auch nicht durch fehlerhaften NA-Schutz verursacht», sagt ETHZ-Wissenschaftler Alexander Fuchs, der das NAEEA+-Projekt koordiniert hat. «Um Inselnetze zu unterbinden, muss man eine andere Funktion des Wechselrichters nutzen, die ‹aktive Inselnetzerkennung›. Oder man stellt durch Messung und Fernsteuerung sicher, dass netzbildende Anlagen getrennt werden, wenn ein Inselnetz zu entstehen droht», ergänzt Fuchs.
Die im Projekt versammelten Expertinnen und Experten waren sich am Ende einig, dass auf den externen NA-Schutz bei Photovoltaik- und anderen Stromerzeugungsanlagen im Niederspannungsnetz verzichtet werden kann. Als dieses Ergebnis Mitte 2024 öffentlich wurde, ging eine Arbeitsgruppe des VSE daran, die eingangs genannte Branchenempfehlung zu überarbeiten. Das Ergebnis soll im Verlauf des Jahres 2025 vorliegen. Bis dahin gilt eine Übergangsregelung, die der neuen Empfehlung Rechnung trägt. Etliche Verteilnetzbetreiber setzen die neue Regelung bereits um und fordern in ihrem Netzgebiet keinen externen NA-Schutz mehr.
Alle Akteure in der Pflicht
Verzichtet man auf einen externen NA-Schutz, verlässt man sich auf den NA-Schutz im PV-Wechselrichter. Damit dieser NA-Schutz korrekt funktioniert, muss der Wechselrichter richtig eingestellt sein. Analysen im Projekt haben ergeben, dass dies nicht immer der Fall ist. Um die Verlässlichkeit weiter zu erhöhen, sieht die Neuregelung des NA-Schutzes zwei Massnahmen vor:
Erstens sollen die Solarinstallateure bei der korrekten Einstellung der Wechselrichter unterstützt werden. Hierfür stellen die Verteilnetzbetreiber Einstellvorgaben für ihr Netzgebiet zur Verfügung, und Swissolar erstellt für die verschiedenen Wechselrichter-Typen ein Referenzdokument, wie diese Einstellungen in verschiedenen Wechselrichtermodellen vorgenommen werden können.
Zweitens melden die Installateure bzw. beauftragte Kontrolleure die vorgenommenen Wechselrichter-Einstellungen an die Verteilnetzbetreiber. Die Umsetzung der Dokumentation ist noch zu definieren, soll aber möglichst einheitlich erfolgen und in bestehende Prozesse eingebunden werden.
«Diese beiden Massnahmen schaffen die nötige Sicherheit in den Verteilnetzen, die den Netzbetreibern bei einer zuverlässigen Stromversorgung hilft», sagt Patrick Bader, VSE-Vertreter im NAEEA+-Projekt.
Von der Neuregelung des NA-Schutzes profitieren alle Personen, die neu eine Solaranlage über 30 kW Leistung im Niederspannungsnetz in Betrieb nehmen wollen. Sie werden nach einer Überschlagsrechnung von Alexander Fuchs im Durchschnitt rund fünf bis zehn Prozent der Investitionskosten sparen, weil sie auf den externen NA-Schutz verzichten können. Nach Einschätzung von Fuchs kommt dieser Vorteil jedes Jahr bei rund der Hälfte der schweizweit neu installierten Photovoltaik-Leistung zum Tragen.