Gesamtansicht von Brienz mit dem Bergrutsch. (Bilder: A. Walker, M. Müller, Infodienst Gem. Albula)
Andreas Walker, Infobulletin (Gem. Albula)
Rutschung von Brienz bremsen
In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni 2023 stoppte ein grosser Bergrutsch knapp vor dem Dorf Brienz GR. Entwarnung ist trotzdem nicht in Sicht, denn das ganze Dorf rutscht weiterhin talwärts. Jetzt soll ein Entwässerungsstollen die Rutschung stoppen.
Nach der letzten Eiszeit vor rund 10 000 Jahren ereignete sich im heutigen Gebiet von Brienz über einen langen Zeitraum ein grosser Bergrutsch, der heute eine Terrasse bildet. Darauf wurde schliesslich das Dorf Brienz gebaut, auf dem höchsten Punkt steht die Kirche.
Der Berghang ist seither nie ganz zur Ruhe gekommen, allerdings gab es Zeiten, in denen er ziemlich stabil war. So rutschte Brienz z.B. in den 1930er Jahren nur etwa 10 cm pro Jahr talwärts. In den letzten Jahren hatte die Geschwindigkeit wieder zugenommen und am Anfang des Jahres 2023 gab es etliche Anzeichen, dass aus einem Teilbereich der Rutschung bald ein Bergrutsch in Richtung Dorf erfolgen würde. Deshalb wurde die gesamte Bevölkerung des Dorfes am 12. Mai vorsorglich evakuiert. In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni erfolgte schliesslich der erwartete Bergrutsch. Anfang Juli 2023 konnte die Bevölkerung schliesslich wieder nach Brienz zurück.
Bereits sehr früh besiedelt
Verschiedene Orte im Raum Lenz/Lantsch-Tiefencastel-Oberhalbstein wurden schon sehr früh in Berichten erwähnt. Auf diesem Gebiet lassen sich auch Siedlungen aus der Bronze- und der Eisenzeit nachweisen. Sie lagen an der von den Römern benutzten Nord-Süd-Transitroute über den Julier- und den Septimerpass. Wahrscheinlich wurde auch das Gemeindegebiet von Brienz früh besiedelt. Die Landschaft des vorderen Albulatals wird in den ersten urkundlichen Quellen aus dem Frühmittelalter mit Ortschaften, Festungen und Strassen dargestellt. Die Wirtschaft war von Ackerbau und Schafhaltung geprägt.
Sondierbohrungen zeigten Wasservorkommen
Seit 2018 wurde die Rutschung Brienz mit Sondierbohrungen intensiv geologisch untersucht. Im Sommer 2021 wurde mit dem Bau eines Sondierstollens begonnen, um eine Entwässerung der geologischen Schichten unterhalb des Dorfes zu prüfen. Vor dem Bau des Sondierstollens bewegte sich der gesamte Boden von Brienz etwa 1,6 m pro Jahr talwärts. Bereits mit der Fertigstellung des Sondierstollens konnte die Rutschung des Dorfes von 1,6 auf 1,05 m pro Jahr verringert werden.
Durch den Bau und Betrieb eines Entwässerungsstollens sollen die Geländebewegungen der Rutschung Dorf auf unter 10 cm pro Jahr reduziert und die instabilen Felsmassen im Gebiet der Rutschung Berg beruhigt werden. Der bestehende Sondierstollen wird deshalb verlängert und zu einem rund 2,3 km langen Entwässerungsstollen ausgebaut. Sondierbohrungen zeigten, dass sich unter dem Gebiet Armauns ein grösseres Hangwasservorkommen befindet. Der Entwässerungsstollen ermöglicht es, dieses Vorkommen anzubohren und diesen Bereich zu entwässern. Die Vorarbeiten für die Deponie des Ausbruchsmaterials haben bereits Mitte September 2023 begonnen, der Vortrieb des Entwässerungsstollens ist für April 2024 vorgesehen. Ende 2027 soll der Entwässerungsstollen in Betrieb gehen.
Bergwasserdruck unter der Rutschung entscheidend
Mit dem Sondierstollen konnte nachgewiesen werden, dass der stabile Fels unterhalb der Rutschmasse entwässert werden kann. Diese Entwässerungsmassnahmen führten dazu, dass sich die Wasserdrücke im Einflussbereich des Sondierstollens markant reduziert oder sogar vollständig abgebaut haben. Dies bewirkte eine rasch einsetzende Verlangsamung der Rutschbewegungen. Die Bewegungsmessungen zeigen zudem, dass sich eine Reduktion der Rutschgeschwindigkeiten der Rutschung Dorf positiv auf die Bewegungsgeschwindigkeiten der Rutschung Berg auswirken und auch dort eine Verlangsamung einsetzt.
Über zwei Kilometer langer Entwässerungsstollen
Die Gemeindeversammlung Albula bewilligte im letzten Sommer einen Kredit von 39,8 Mio. Franken für den Entwässerungsstollen ohne Gegenstimme. 90 Prozent der Gesamtkosten sollen von Bund und Kanton übernommen werden. Der 635 m lange Sondierstollen unter dem Brienzer Rutsch wird zu einem über 2 km langen Entwässerungsstollen ausgebaut. Vom jetzigen Ende des Sondierstollens südwestlich des Dorfes werden die Bergleute den Stollen zuerst nordwärts unter die Wiesen und den neuen Schuttkegel beim Schulhaus treiben. Von dort wird der Ost-Arm des Stollens in einer grossen Rechtskurve um das Dorf herum bis zum Dorfrand Richtung Alvaneu führen. Der West-Arm wird unter der Kantonsstrasse Richtung Lantsch/Lenz bis an den Rand der Rutschung oberhalb Vazerol verlaufen. Aus dem Stollen werden mehr als 100 Drainagebohrungen in den festen Fels und hinauf in die rutschende Masse gebohrt.
Die Arbeiten für den Bau des Stollens und die zahlreichen Bohrungen werden rund zweieinhalb Jahre dauern und können nur von spezialisierten Unternehmen durchgeführt werden. Da der Entwässerungsstollen eine Verlängerung des Sondierstollens ist, kann der Bau vom selben Ort aus vorangetrieben werden. Das Ausbruchmaterial aus dem Stollen wird mit Lastwagen in die Deponie Tgampi unterhalb Alvaschein gebracht.
Risse in den Häusern und zerstörte Wasserleitung
Die Rutschung des Dorfes hat bereits überall massive Spuren hinterlassen. Einige Gebäude und Strassen weisen durch die Bodenverschiebungen Risse auf. Zudem wird befürchtet, dass weitere Verschiebungen die Infrastruktur beschädigen könnten. Bereits während der Evakuierungsphase im Mai 2023 war es an der Wasserleitung zwischen Vazerol und Brienz zu einem Rohrbruch gekommen. Deshalb musste kurzfristig eine neue Leitung zwischen Vazerol und Brienz gebaut werden.
Wenn alles nach Plan läuft, sollte der Entwässerungsstollen die Talfahrt des Dorfes fast zum Stillstand bringen. Wie geht es jedoch weiter, wenn das Dorf trotzdem mit schneller Geschwindigkeit weiterrutscht?
Umsiedlung von Brienz?
Die Gemeinde Albula hat zur Vertiefung des Szenarios «Umsiedlung Dorf» seit August 2019 eine Kommission «Siedlung» eingesetzt. Eine Gesamt- oder Teilumsiedlung von Brienz könnte dann nötig werden, wenn die Sanierung der Rutschung erfolglos bleiben würde, das Dorf durch ein Ereignis beschädigt oder zerstört oder die psychische Belastung durch die Gefährdungslage für die Betroffenen zu gross würde.
Die betroffenen Eigentümer von Gebäuden stehen zudem vor dem Problem, dass die Gebäudeversicherung bei einer allfälligen Aufgabe von Brienz bestenfalls den Neuwert des Gebäudes, aber nicht das Bauland entschädigen würde. Wenn also jemand an einem anderen Ort neu bauen will, müsste er das Bauland selbst bezahlen. Für die Gemeinde stellt sich zudem die Frage, wie sie die hohen Kosten einer allfälligen Erschliessung von neu eingezontem Bauland finanzieren könnte. Die Kommission «Siedlung» hat sich deshalb an den Bund und den Kanton gewandt und wollte wissen, ob und wie sie sich an einer möglichen Umsiedlung und an den Kosten für das Land und dessen Erschliessung beteiligen würden. Der Bund und der Kanton sind in diesem Falle bereit, zusammen 90 Prozent derjenigen Kosten einer Umsiedlung zu übernehmen, die die Gebäudeversicherung nicht trägt. Damit wird für die Betroffenen die Situation konkret und beseitigt eine grosse Unsicherheit, die bisher über dem Projekt einer möglichen Umsiedlung schwebte.
«Am ehesten trifft es die Wasserleitungen»
Nachgefragt bei Martin Müller, Betriebsleiter Brienz
Der technische Betrieb von Brienz kümmert sich um Gebäude, Strassen, Wasserversorgung, Kanalisation, Wanderwege, Abfallbewirtschaftung und Friedhöfe der Gemeinde Albula. Der Brienzer Rutsch sorge für besonders viel Arbeit. Aber das Team von Martin Müller kümmert sich um alle Fraktionen der Gemeinde.
Wie hat das Leitungs- und Strassennetz von Brienz den Sommer mit dem Schuttstrom überstanden?
Auf die unterirdischen Leitungen der Gemeinde hatte der Schuttstrom vom 15. Juni keinen Einfluss. Weil die Kantonsstrasse nach Lantsch verschüttet wurde, musste die Verbindungsstrasse nach Vazerol über grosse Strecken erneuert und verbreitert werden. Es wurden Ausweichstellen geschaffen, damit die Postautos und der übrige Verkehr sicherer kreuzen können. Die Rutschung geht aber weiter. Das Dorf und seine Infrastruktur leiden darunter.
Gab es zusätzlichen Aufwand für das Leitungsnetz, als die Evakuierung aufgehoben wurde und die Leute wieder ins Dorf konnten?
Während der Evakuierung lief nur das minimale Wasser einzelner Brunnen. Zur Rückkehr der Bevölkerung mussten wir das Leitungsnetz zuerst spülen, da lange stehendes Wasser in den Leitungen zu einer Qualitätseinschränkung führt. Als die Leute wieder einzogen, war das Trinkwasser einwandfrei.
Seit dem Spätsommer 2023 rutscht das Dorf wieder schneller. Spüren Sie das im Leitungsnetz?
Ja, die starren Wasserleitungen sind grossen Zugkräften ausgesetzt. Die Verbindungsstellen der einzelnen Leitungsstücke werden auseinandergezogen. Allein im Januar und Februar hatten wir drei Leitungsbrüche.
Wie merken Sie, wenn unter dem Boden eine Leitung bricht?
An einfachsten ist es, wenn Wasser aus dem Boden austritt und uns jemand informiert. Unsere Systeme alarmieren uns aber auch, wenn sie einen besonders hohen Wasserverbrauch feststellen. Dann gehen wir der Ursache nach.
Wie finden Sie einen Rohrbruch, wenn das Wasser nicht oben austritt?
Wir setzen an bestimmten Punkten des Leistungsnetzes ein Horchgerät ein. Mit ihm hören wir, ob in diesem Bereich viel Wasser fliesst. Eine Spezialfirma unterstützt uns dann. Sie hat ein Gerät, mit dem sie einen Rohrbruch auf einen halben Meter genau orten kann.
Wo sehen Sie die meisten Schäden?
Am meisten leiden die Leitungen im unteren Dorfteil Tgaplotta. Hier verändert sich der Untergrund sehr stark, was man ja an der Oberfläche und an den Strassen gut sieht.
Welche Leitungen sind besonders stark betroffen?
Am ehesten trifft es die Wasserleitungen. Sie sind starr und wenig flexibel.
Wie viel grösser sind die Beschädigungen in Brienz im Vergleich zu den anderen Fraktionen der Gemeinde?
Schäden an Leitungen gibt es immer wieder – auch in anderen Fraktionen. In Brienz sind sie durch die Bewegung im Untergrund aber etwa fünf bis sieben Mal häufiger.